Die Individualdistanz deines Hundes

Die Individualdistanz deines Hundes

„Eigentlich ist er friedlich, aber wehe seine Individualdistanz wird unterschritten.“ – Diesen oder ähnliche Sätze höre ich häufig.

Was ist die Individualdistanz?

Das Konzept der Individualdistanz stammt aus der Verhaltensbiologie. Die Individualdistanz ist der geringste Abstand zu anderen Individuen der gleichen Art, ehe Drohverhalten oder ein Ausweichen einsetzt. 

In der Verhaltensbiologie wird innerhalb dieses Konzeptes in „Kontakttiere“ und „Distanztiere“ unterschieden.

 „Kontakttiere“ sind die Arten, bei denen regelmäßig der Nahkontakt zu anderen Artgenossen gesucht wird, z.B. zum Ruhen, Spielen, Pflegen oder Wärmen. Hier gibt es keine Individualdistanz in dem Sinne. Der direkte Körperkontakt wird gewöhnlich zugelassen oder gesucht. 

„Distanztiere“ sind Arten, bei denen das nicht der Fall ist bzw. deutlich weniger und seltener. Vielleicht wird gemeinsam geruht, aber mit etwas Abstand. Schau dir, z.B. zusammen ruhende Vögel an, die auf einer Leitung sitzen. 

Kontakt- und Distanztiere können durchaus in sozialen Verbunden, wie einer Herde oder einem Schwarm leben. Viele Huftiere, Vögel und Fische gehören in die Kategorie „Distanztiere“. 

Die Individualdistanz deines Hundes

Was hat das mit der Individualdistanz unserer Hunde zu tun?

Schon in der ursprünglichen Verwendung ist man sich einig, dass die Individualdistanz keine feste Größe ist. 

Sie hängt von Tages- und Jahreszeit, Umweltbedingungen, Geschlecht (in den meisten Arten haben Weibchen eine deutliche reduzierte), hormonellem Status, sowie vielen anderen Begebenheiten ab – die sich auf beide Individuen beziehen können. 

Das bedeutet nicht einmal in einer strukturierten und zusammenhängenden Gruppe kann man sie exakt definieren. 

Bei Menschen nennt man diesen Bereich der Kommunikationswissenschaft und Psychologie „Proxemik“. Man unterscheidet zwischen Intimdistanz, persönlicher Distanz, sozialer Distanz und öffentlicher Distanz. 

Diese Klassifizierung macht Sinn, sie greift die Vertrautheit in der Situation und mit dem Gegenüber auf. Die einzelnen Distanzen sind dabei variabel und auch von kulturellen Unterschieden geprägt. 

Der Begriff „Individualdistanz“ ist ein aus der Verhaltensbiologie entliehener und abgewandelter Begriff. Hunde sind Kontakttiere. Damit haben sie keine Individualdistanz der oben beschriebenen Definition. 

Anders als beim Konzept in der Verhaltensbiologie wird in der Welt der Haushunde der Begriff zudem nicht auf eine natürlich gewachsene Gruppe, sondern auf Mehrhundehaltung und auf Begegnungen mit familienfremden Artgenossen angewendet – teilweise auch auf Menschen. 

Doch der Haushund hat ein Problem: Anders als seine frei- und wildlebenden Artgenossen kann er den Kontakt zu anderen Haushunden nicht eigenständig regulieren. 

Straßenhunde, sowie unabhängig und frei lebende Hunde, ja auch Wölfe, legen ihre Lebensbereiche so, dass sie ausreichend Nahrung finden und dabei möglichst selten auf Artgenossen treffen. 

Kaum auszudenken, was passiert, wenn wir unsere täglichen Streifzüge, aka Gassirunden, auf diese Art gestalten würden.

Die Individualdistanz deines Hundes

Diese Umstände beeinflussen die Individualdistanz deines Hundes

Da dein Hund in verschiedenen Situationen unterschiedliche Distanzen als angenehm empfindet, solltest du dich davor hüten zu denken „Ach, der andere ist ja noch 10 Meter weg, das passt“. 

Diese Raster führen zu den plötzlichen Überraschungsmomenten in denen uns dann das „Das hat er ja noch nie gemacht“ entfährt. 

Warum dein Hund auch immer heute eine andere Distanz benötigt? Es kann tausend Ursachen geben. 

Unsere Sinne, Empfindungen und Bewertungen sind anders. Viele der Auslöser befinden sich daher außerhalb unserer Wahrnehmung!

Die Klassiker sind: 

Vorangegangene Erlebnisse der letzten Stunden, die wichtige Ressourcen gekostet haben. Dein Hund hat nicht mehr genug Impulskontrolle, Frustrationstoleranz oder Energie.

Schmerzen, gesundheitliches Unwohlsein, Müdigkeit.

Stress aus anderen Situationen hat sich summiert.

Hormoneller Status.

Wahrnehmung von Anspannung, Konflikten oder anderen Risiken beim Anderen. Das können minimale körpersprachliche Signale, aber auch olfaktorische Reize sein! Beide Entziehen sich unserer Beobachtung.

Erfahrungen in ähnlichen Situationen, die in die Bewertung einfließen.

Plötzliches Auftauchen des Anderen, wenn dein Hund eh schon angespannt ist. 

 

Die Individualdistanz ist niemals eine zu 100% feststehende Größe!
Die Individualdistanz deines Hundes

Warum kann das Konzept dennoch Sinn machen?

Zum einen ist es sinnvoll, sich darüber klar zu sein, dass ein Hund Körpergrenzen hat und eine Maß von Nähe in dem er sich wohlfühlt. Individualdistanz ist eine Grenze!

Sich darüber bewusst zu sein, dass diese Grenze von vielen Faktoren abhängig ist und z.B. Tagesverfassung und das persönliche Empfinden gegenüber dem Anderen eine große Rolle spielen, bedeutet deinen Hund als lebenden Organismus anzuerkennen. 

Uns als Hundehalter:in Dritten gegenüber für seine Grenzen einzusetzen und sie selber zu wahren ist Teil unserer Verantwortung. 

Das Wissen über die Limits unseres Hundes hilft uns im Training, Schwerpunkte zu setzen und ein möglichst sinnvolles Lernumfeld zu gestalten. 

Das gilt im Übrigen nicht nur für die Grenzen meines Hundes: Ich liebe es mit meinen Hunden zu kuscheln, wir haben Körperkontakt, aber in bestimmten Situationen mag ich es nicht. Je klarer es für mich ist, desto besser kann ich es ihnen beibringen, ohne, dass ich erst auf die Grenzunterschreitung warte. Ich kann achtsam genug sein, es ihnen frühzeitig mitzuteilen und vielleicht etwas anderes anzubieten. 

Die Individualdistanz deines Hundes

Distanzlose Hunde?

Das Konzept der Individualdistanz macht nicht nur bei den Hunden Sinn, die andere Hunde vertreiben oder ihnen ausweichen wollen, sondern ebenfalls bei denen, die „einfach nur hinwollen“. 

In der Regel handelt es sich hierbei um Hunde, die

in Konflikten „Spielen“ als Lösungsstrategie bevorzugen.

frustriert sind, weil sie selten Kontakt bekommen.

fortpflanzungsbereit sind und das Gegenüber als „Partner“ abchecken wollen.

in der Jugendentwicklung stecken und Artgenossen noch sauspannend finden.

Solange das für beide Seiten in Ordnung ist: Kein Problem, warum nicht Kontakt zulassen. 

Wann und wie du um Übrigen über Kontakt an der Leine nachdenken kannst, habe ich dir in diesem Artikel zusammengefasst. 

Doch was, wenn es nicht geht?

Sei dir darüber im Klaren, ab wann es anzunehmen ist, dass dein Hund reagiert und unumstößlich hin will. Denn in dem Moment wird es für euch deutlich schwieriger, euch aus der Situation zurückzuziehen. Trainiere in diesem Fall mit deinem Hund unbedingt, dass ihr manchmal gelassen weitergeht oder ausweicht. – Egal, wie freundlich und aufgeschlossen er ist. 

Die Individualdistanz deines Hundes

Hunde dürfen ihre Wohlfühldistanzen kommunizieren

Mein Ziel ist es, dass meine Hunde Distanzunterschreitungen von Menschen und anderen Hunden zumindest für einige Augenblicke ertragen können, falls es mal dazu kommt. 

Dabei bin ich überhaupt nicht der Meinung, dass sie sich von irgendwem – mich eingeschlossen – alles gefallen lassen müssen. Sie dürfen klar verkünden, wenn die Distanzen unterschritten werden, sie keinen Kontakt möchten. 

Die Frage, ob bei uns Knurren erlaubt ist, kannst du dir mit einem fetten JA!!!!!! beantworten. 

Es ist meine Aufgabe als Hundehalterin im Training und im Alltag dafür zu sorgen, dass meine Hunde es nicht nötig haben nachdrücklicher zu werden und über Training ihre Grenzen soweit zu verschieben, dass sie unseren gemeinsamen Alltag gut meistern können. 

Und natürlich auch mit meinen Kundenteams diesen Weg zu gehen. 

Das bedeutet, dass wir zunächst daran trainieren, dass der Mensch

die Grenzen des Hundes erkennt und respektiert.

die Feinheiten im Ausdrucksverhalten seines Hundes lernt. 

sich notiert, wo Grenzen für einen entspannten Alltag verschoben werden sollten.

sich seinen eigenen bewusst wird.

Faktoren im Alltag kennenlernt, die die Grenzen seines Hundes verändern.

Und die Hunde lernen

sich eher zurückzuziehen, als zu attackieren, wenn ihnen jemand auf die Pelle rückt.

deutlich zu kommunizieren, wenn sie diesen Kontakt nicht wünschen. 

sie in bestimmten Situationen Enge ertragen und Strategien haben, diese Momente zu überbrücken und ihre Lunte zu verlängern.

Die Individualdistanz deines Hundes

Wichtig ist, dass es sich immer für sie lohnt, wenn sie etwas aushalten und das es nicht die Regel ist, dass sie es aushalten müssen. Wer den Bogen überspannt, provoziert einen gegenteiligen Effekt! 

Danach geht es damit weiter, dass wir die Grenzen Schritt für Schritt verschieben, wenn es notwendig oder förderlich für ein schöneres Leben ist. 

Das ist nicht nur auf Begegnungen begrenzt, sondern gilt ebenfalls für Körperpflege, Medical Training und Ressourcenverteidigung. 

Als Nayeli zu uns kam, durften wir uns nicht auf 30cm mit der Hand ihrem Rutenstummel nähern. Heute liebt sie es, wenn wir den Popo schrubbeln, ich darf den Rutenstummel scheren, abtasten und den Ansatz massieren. 

Training und Zusammenleben ist immer ein Prozess! Wir sind nie fertig, es kann immer weiter und tiefer gehen.

Die Individualdistanz deines Hundes

Wichtige Aspekte für deinen Alltag und dein Training

Das A&O an dieser Stelle ist es, die Körpersprache deines Hundes zu kennen. Sobald ihr in Situationen kommt, in denen du Sorge hast, dass ihr euch kritischen Distanzen nähert, heißt es, deinen Hund besonders gut zu beobachten. 

Denn nun bestimmt nicht die Distanz, sondern die Signale deines Hundes dein Handeln. Häufig sind es Signale, wie das Einfrieren  oder andere Stress- und Konfliktsymptome, die uns zeigen, dass die Distanz bereits unterschritten ist. 

In einer geplanten Trainingseinheit solltest du nicht an diesen Punkt kommen. Hier heißt es, bis kurz vor die Grenze zu gehen und das mit etwas Gutem zu verbinden. Kleine Konfliktsignale wie leichtes Abwenden, Blinzeln der Züngeln sollten hier mehr als genügen! 

Oft ist es die Dauer, die eine Situation stressend macht und mit steigendem Stresspegel, steigt auch die notwendige Distanz! Achte unbedingt im Training darauf nicht zum Ende einer Einheit zu steigern. Beende lieber leicht und locker, sodass es ein voller Erfolg war. 

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