Das Deprivationssyndrom beim Hund

Das Deprivationssyndrom beim Hund

Etwa einmal die Woche habe ich Kontakt zu Menschen, denen man erzählt hat, dass ihr Hund am Deprivationssyndrom leide. Das Wort Deprivation hat mittlerweile eine echte Triggerwirkung auf mich. 

Nicht, wegen des Wortes, sondern wegen der Verwendung. Grund genug diesen Artikel zu schreiben, um etwas Klarheit in die Sache zu bringen.

Was ist das Deprivationssyndrom?

Es handelt sich beim Deprivationssyndrom um eine Verhaltensstörung, die durch Entzug entsteht. Man unterscheidet in: 

soziale Deprivation,

physische Deprivation (Mangelernährung) und

sensorische Deprivation.

Tritt dieser Entzug auf, ehe das Individuum voll erwachsen ist, können dadurch bestimmte Gehirnbereiche nicht vollständig entwickelt werden oder auch körperliche Entwicklung gestört werden. Das wäre dann ein Deprivationsschaden. 

Auch das sogenannte Kaspar-Hauser-Syndrom und der Hospitalismus fallen in diese Kategorien. 

Nicht wenige Foltermethoden bauen im Übrigen auf Deprivation auf, wie z.B. die Isolation.

Das Deprivationssyndrom beim Hund

Warum triggert mich das Wort “Deprivationssyndrom“ so?

Ganz einfach: Um Herauszufinden, ob ein Hund wirklich einen Deprivationsschaden hat, sind Untersuchungen notwendig; die meisten davon am Gehirn! Mehr als 95% der Hunde, die ich kenne, denen man das Etikett auferlegt hat, sind nie untersucht worden. 

Ich kenne echte Fälle: Hunde, bei denen sich das Sehvermögen nicht entwickelt hat, weil sie nur in Dunkelheit gehalten wurden, zum Beispiel. 

Bei den meisten Fällen ist das Etikett jedoch aufgrund anderer Ursachen geklebt worden. In der Regel handelt es sich dabei um Hunde, die z.B. durch Vermittlung, einen krassen Wechsel im Lebensumfeld hatten. Häufig um Hunde aus „schlechter Haltung“ oder einen „reizarmen Umfeld“. 

In ihrem bisherigen Leben sind sie vielleicht gut zurechtgekommen. Doch das neue Umfeld überfordert sie. Ihr Gehirn kennt viele der hiesigen Reize nicht. Sie haben also vielleicht wirklich weniger oder andere Reize kennengelernt und sind von den “überschüssigen” Reizen gestresst. 

Das bedeutet aber nicht, dass sie krank sind, und es bedeutet auch nicht, dass sie gestört sind. Es bedeutet, dass sie Unterstützung brauchen, und zwar JETZT!

Nur, weil wir mit unserem Latein am Ende sind, das Training oder Zusammenleben uns vielleicht überfordert, ist der Hund nicht krank. Mit dem Etikett „Deprivationssyndrom“ nehmen wir vielen Menschen die Hoffnung, dass sie mit ihrem Hund auf ein „normales“ Leben hinarbeiten können. Eine endgültige Diagnose ohne Aussichten. Und das ist Blödsinn. 

Das Deprivationssyndrom beim Hund

Auch unsere Minnie hatte dieses Etikett! 

Minnie hat viele Anzeichen dafür, dass sie wirklich physiologischer Deprivation oder extremen Stress der Mutter ausgesetzt war. Sie ist für ihren DNA Test (Deutsch Kurzhaar 55% – Deutsch Drahthaar 35% – Englisch Setter 15%) mind. 20cm zu klein. Ein Teil ihres Körpers und ihrer knöchernen Struktur weist daraufhin, dass sie mal größer werden sollte. Dadurch hat sie körperliche Nachteile. 

Die ersten 2 Jahre ihres Lebens, lebte sie im Zwinger – erst beim Jäger, dann im Canile. 

Menschen, Geräusche und viele unserer hiesigen Umweltreize haben ihr zu Beginn eine Menge Angst eingejagt. Sie war die ersten zwei Jahre bei uns im Lernen so eingeschränkt, dass sie nicht einmal auf ihren Namen reagierte. 

Bis sie mal Futter aus unserer Hand nehmen konnte, hat es bei mir Wochen, bei meinem Mann Monate und bei Freunden JAHRE gedauert. 

Mit anderen Hunden war sie jedoch von Beginn an gut und sehr fein in der Kommunikation, solange die Menschen sich raushielten.

Sie kennt Schildkröten und andere Reize, die mein Golden Retriever aus einem hiesigen Haushalt nie kannte. Sie konnte hinten auf einem Pick up mit dem Jäger mitfahren, sich in der Natur frei bewegen und war rechtzeitig wieder am Pickup um mit der gesamten Hundegruppe zurück in den Zwinger zu kehren. Sie kannte nur keine Zivilisation…

Minnie kannte Autos nur von außen bzw. von der Ladefläche, kein Leben im Haus, keine Leine, keine Menschen als Sozialpartner. Ihre Ängste waren extrem und heftig. Ihr Jagdverhalten exzessiv. Das Lernen schwierig. 

Kollegen klebten das Etikett „Deprivationssyndrom“ und ich war fix und fertig. Maria Hense und Dr. Ute Blaschke-Berthold klärten mich auf und mir fiel ein Stein vom Herzen! Es gab Chancen für uns. 

Heute – 8 Jahre später – habe ich einen sensiblen, schnell hemmbaren Hund, ihre Persönlichkeit blieb. Doch für die meisten Menschen ist ihr nicht anzumerken, dass sie mal Probleme hatte, denn wir haben fast alle Angstauslöser bewältigt, sie ist fröhlich, lernt schnell und begeistert und lebt als echter Wonneproppen.

Das Deprivationssyndrom beim Hund

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!

Eine LÜGE bzw. längst überholt, denn man weiß mittlerweile, dass sich das Gehirn bis zum letzten Atemzug entwickelt.

Ja, Umlernen ist schwerer als neu Lernen.

Ja, es gibt Phasen im Leben, da werden Lerninhalte schneller gelernt.

Doch dein Hund kann, wenn er keinen Hirnschaden und kein echtes Deprivationssyndrom hat, bis zum letzten Atemzug lernen! Und, wenn er nicht lernt, hat das Gründe. Aber vielleicht lernt er ja auch und nur nicht, dass was du willst? Mehr dazu erfährst du in diesem Artikel.

Es kann sein, dass es Dinge gibt, die es euch schwieriger machen, vielleicht sind es:

Stress

Krankheit

Lebensumstände

Umweltängste.

Dann heißt es Alltag verändern, Training optimieren, ggf. Tierarzt und Verhaltensmediziner hinzuziehen, um alles auszuschöpfen. 

Doch bitte, bitte nimm die „Diagnose Deprivationssyndrom“ nicht einfach hin. Ihr könnt weiterkommen, Neues lernen und euer Leben verschönern. 

Häufig verbirgt sich hinter diesen Lernschwierigkeiten eine Angst. In meinem Artikel „Warum du nicht auf Gewöhnung setzen solltest, wenn du einen Angsthund hast“ bekommst du Anregungen, wie du vorgehen solltest, wenn du Ängste vermutest. 

Schmerzen sind ebenfalls häufig eine Ursache für schlechteres Lernen. Mehr dazu findest du in meinem Artikel „Verhaltensprobleme und Schmerzen – Ein Teufelskreis“.

Das Deprivationssyndrom beim Hund

Ein Gehirn entwickelt sich passend zur Umwelt

Kein Tier hat ein unpassendes Gehirn. Gehirne entwickeln sich durch Reizverarbeitung. Sie passen sich flexibel an die vertraute Umwelt an. Die Biologie hat dabei nur nicht vorgesehen, dass ein Mensch hergeht und den Hund mal eben von A nach B verpflanzt. 

Es kann also durchaus sein, dass dein Hund bei einigen Umweltreizen aus deinem täglichen Spektrum ein Erfahrungsdefizit hat. Es kann auch sein, dass der Begriff „depriviert“ im Bezug auf diese Defizite passt. Wichtig ist mir an der Stelle, dass du mit der richtigen Begleitung eine Menge an diesem Defizit ändern kannst! Es muss kein Schaden bleiben und keine dauerhafte Beeinträchtigung sein – wenn keine krankhafte Schädigung vorliegt. Solange du keine Untersuchungen des Gehirns machen lassen hast und die Sinnesorgane deines Hundes in einem anderen Kontext funktioneren, gehe nicht von einer krankhaften Schädigung aus. 

Je größer der Kontrast zwischen den Lebensumständen ist, desto größer sind die Anpassungsschwierigkeiten. Kommt dann noch z.B. ein eher scheuer Persönlichkeitstyp, schnelle Hemmbarkeit, gesundheitliche Faktoren oder andere ungünstige Konstellationen hinzu, wird es für das Hundegehirn schwer.

Oft schauen mich die Menschen ungläubig an, wenn ich ihnen für die erste Zeit nach dem Einzug mit dem Hund anrate möglichst nichts zu tun, außer zum Lösen rauszugehen und das tägliche Lebensumfeld und die zum Haushalt zugehörigen Personen kennenzulernen. Der Grund ist einfach: 

Alles ist neu! Was neu ist, dafür ist keine Strategie zum Umgang da. Das macht Stress. Stress ist ein guter Nährboden für Verhaltensprobleme und Ängste. 

Wer in den ersten Wochen im neuen Zuhause auf wenig Reize achtet, gibt dem Hund Zeit das neue Zuhause vertraut werden zu lassen, sich zu entspannen und erst einmal den Menschen als sichere Basis für den Alltag kennenzulernen. Ist das geschafft, hast du die halbe Miete im Sack und kannst beginnen Erkundungstouren zu machen, Freunde kennenzulernen und die Umwelt zu entdecken. Alles wohlwissend, dass Zuhause der Akku wieder aufgeladen wird.

Das gilt im Übrigen nicht nur für Tierschutzhunde, sondern auch für Welpen vom Züchter. Mach dir stets bewusst, für den Neuankömmling sind alle Sachen in deinem vertrauten Umfeld neu – inklusive dir. 

Das Deprivationssyndrom beim Hund

Was du tun kannst, wenn man dir gesagt hat, dass dein Hund ein Deprivationssyndrom hat

Frage nach. 

Wer auch immer es dir gesagt hat, frage nach, woher die Meinung stammt? Ob es gesichert ist und wie er oder sie es erkannt hat! Ist es eine Vermutung? Wisst ihr überhaupt, ob der Hund wirklich Reizentzug hatte?

Reflektiere. 

Was hat dein Hund in den letzten Jahren gelernt? Was sind eure Herausforderungen? Was habt ihr tatsächlich getan, um das Verhalten zu verändern? Gab es Anpassungen im Leben, die über die Problemsituation hinausgingen? In diesem Blogartikel verrate ich dir meine 5 Säulen zur nachhaltigen Verhaltensveränderung und in dieser Podcast Episode #18 sprechen Anja und ich darüber, warum es für uns mit Training nicht getan ist.

Hole dir eine zweite Meinung. 

Wer ist für dich Expertin auf dem Gebiet Hundeverhalten? Steht er oder sie für eine Zweitmeinung zur Verfügung? Wenn ja, hole sie ein. 

Lasse deinen Hund durchchecken. 

Gibt es den Verdacht auf gesundheitliche Probleme oder Schmerzen? Ist dein Hund dahingehend wirklich untersucht worden? Wenn nein, hole das nach. Wenn ja, checke ob die Versorgung noch ausreicht. 

Stressreduktion – nicht nur in der problematischen Situation. 

Wie oft hat dein Hund Stress und was machst du wirklich dagegen? Sieh genau hin, ob es nicht etwas zu optimieren gibt. Ich empfehle dir dazu meinen Kurs “Sicherheit schenken und Bindung stärken”. Er unterstützt dich dabei Entspannung und Sicherheit entstehen zu lassen.

Dokumentiere.

Erst einmal befrage dein Gedächtnis: Wie war dein Hund, als er kam und wie ist er heute? Befrage auch den Rest deiner Familie oder gute Freunde, vor allem, wenn sie emotional nicht so betroffen sind. Oft sehen wir einfach die Weiterentwicklung nicht, weil es uns so sehr belastet. Im Anschluss dokumentiere mal vier Wochen jeden Tag eure Erlebnisse, Fortschritte und Rückschritte. Ich bin mir sicher, es gibt Erkenntnisse!

Das Deprivationssyndrom beim Hund

Eine Bitte, wenn du Trainer:in bist! 

Wenn du vermutest, dass ein Hund Defizite in der Entwicklung mitbringt, schau genau hin und vor allem sprich mit den Menschen darüber. Doch bitte erstelle keine „Diagnosen“, die Menschen die Hoffnung und Teams damit die Lebensqualität rauben. 

Es ist für deine Kundenteams gut, wenn du sie darauf vorbereitest, dass es dauern kann, dass es Grenzen geben kann und, dass es besondere Maßnahmen geben wird. 

Es ist nicht notwendig mit einer „Holzhammeraussage“ jegliche Motivation zu zerstören. Vor allem nicht, wenn wir diese gar nicht wirklich stellen können. Denn wissen wir als Trainer:in wirklich, ob das Gehirn des Hundes unterentwickelt und defizitär ist?

Diesen Rückschluss zu ziehen ohne entsprechende Untersuchungen, nur auf Basis unserer Beobachtungen, finde ich gewagt. Kann es nicht sein, dass unser Vorgehen einfach nicht optimal war? Das wir etwas übersehen haben? Oder einfach überfordert sind? 

Wenn ich bei einem Team nicht weiterkomme, lasse ich mich coachen und Kolleg:innen auf das Training schauen. Ich ziehe Tierärzt:innen, Verhaltensmediziner:innen und Biolog:innen hinzu. 

Ich reflektiere, ob:

das Team wirklich umsetzen konnte.

Schmerzen und Co. abgeklärt wurden.

Hintergrundstress mit betrachtet und verändert worden ist.

mein Vorgehen richtig und zielführend war.

ich mein Denken und Handlungsmuster ändern muss. 

Rhythmus und Intensität der Betreuung passen.

Und noch etwas: Vor einiger Zeit hat mir eine Kollegin eröffnet, dass sie einem Hund ein Deprivationssyndrom „bescheinigt“ hat. Nach einigen kritischen Fragen kam heraus, dass die Halter nicht mitgearbeitet haben, Training nicht umgesetzt und Tierärzte nicht aufgesucht wurden. 

Natürlich kann der Hund dann keine großen Fortschritte machen, doch statt den Haltern hier einen „Freibrief“ zu verpassen, wäre es meine Wahl Tacheles mit ihnen zu sprechen und ehrlich zu sein. UND: Wenn ich darin ein Vergehen gegenüber dem Tier im Sinne des Tierschutzgesetzes sehe, auch mit den zuständigen Behörden zu sprechen.

Das Deprivationssyndrom beim Hund

Mein Wunsch: Gib nicht auf!

Ehe du, als Trainer:in oder Halter:in, nicht durch entsprechende Untersuchungen und Dokumentation mit Zweitmeinung und allem Drumherum nicht ganz sicher bist, dass dein Hund einen krankhaften Schaden hat: Gib nicht auf! 

Und selbst wenn, es gibt immer Wege, das Leben zu verschönern. Für dich und den Hund. Vielleicht erzähle ich dir in einem anderen Artikel mal, wie oft wir aufgeben wollten, bei all unseren Tieren. Jede:s von ihnen hat eine entsprechende Geschichte, die meisten von ihnen sind aufgegeben und abgestempelt gewesen. 

Mein Learning aus dem Leben mit ihnen: Alles kann besser werden, wenn wir dran bleiben und wir bereit sind unser Leben anzupassen und uns ständig zu hinterfragen. 

Ich wünsche dir viel Kraft und Mut für euren Weg.

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